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Humanitäre Helfer*innen vor Gericht - eine Krise für die europäische Solidarität

Sean Binder, Sarah Mardini und Nassos Karakitsos sind nur drei Namen von insgesamt 23 humanitären Helfer*innen auf Lesbos, die in Griechenland vor Gericht stehen. Warum? Wegen ihres freiwilligen Engagements in einer legal registrierten Seenotrettungs-NGO, die Menschen vor dem Ertrinken rettete! Und auch wenn vor zwei Wochen ein kleiner, aber symbolischer Sieg errungen wurde, scheint dies nicht das Ende gewesen zu sein.




Wiederaufnahme des Gerichtsverfahrens gegen Ehemalige Seenotretter*innen


Sean Binder erreichte 2016 die griechische Insel Lesbos und schloss sich dem Emergency Response Center International (ERCI) an, einer NGO, die sogenannte “Search and Rescue” Missionen durchführt. Hinter diesem Anglizismus versteckt sich ein einfach zu erklärendes Ziel: Menschen in Seenot vor dem Ertrinken retten. Obwohl mehrfach berichtet wurde, dass die Organisation mit der griechischen Küstenwache zusammenarbeitete und einen legalen Status als eingetragene gemeinnützige Organisation besaß, wurden Binder und 22 weitere ehrenamtliche Helfer:innen, unter anderem Sarah Mardini und Nassos Karakitsos, im August 2018 von den griechischen Behörden wegen mehrerer Vergehen und Straftaten angeklagt.


Kurz darauf wurden sie verhaftet und in in Athens größtem Gefängnis Korydallos untergebracht, wo sie mehr als drei Monate in Untersuchungshaft verbrachten. Schließlich wurden Binder und seine Mitstreiter*innen gegen Kaution freigelassen, und nach Jahren des Wartens und Hoffens auf den Beginn eines gerechten Verfahrens und des Urteils, wurden die Anhörungen vor einem höheren Gericht in Griechenland vor weniger als zwei Wochen, am 10. Januar 2023, wieder aufgenommen.


Die Menschen hinter dem Fall


Nach Sean Binders Aussagen gegenüber der Presse zog es den damals zwanzigjährige junge Mann mit irisch-deutscher Staatsbürgerschaft nach Lesbos, weil er sich gegen die ungerechte Behandlung von Geflüchteten und die vielzähligen Menschenrechtsverletzungen einsetzen wollte. Dies lag nach eigener Aussage an seiner wahrgenommenen Verantwortung als EU-Bürger, der er gerecht werden wollte. Als ausgebildeter und zertifizierter Rettungsschwimmer konnte er seine Fähigkeiten einsetzen und sich in der Seenotrettung an Europas größtem Friedhof, der Ägäis, engagieren. Jahre nach seiner Verhaftung für seine freiwillige humanitäre Arbeit, erzählte er der „Irish Times“, dass er in der Regel zwei Reaktionen von der Öffentlichkeit erhält, nachdem sein Fall international bekannt geworden ist: Entweder wird er als Krimineller angeprangert oder als Held gefeiert. Interessanterweise weist er nicht nur den Vorwurf zurück, ein Krimineller zu sein, sondern findet beide Reaktionen problematisch, da er darauf besteht, dass beide Charakterisierungen implizieren, es sei etwas Abnormales, "jemandem in Not zu helfen".


Die Geschichte von Sarah Mardini, der Mitangeklagten von Binder, wurde unter anderem durch den kürzlich auf der Streaming-Plattform Netflix veröffentlichten Biopic-Film "The Swimmers" über sie und ihre jüngere Schwester Yusra bekannt. Die jungen Frauen flohen im Alter von zwanzig und siebzehn Jahren aus ihrer vom Krieg getroffenen Heimatstadt Damaskus in der Hoffnung, in Deutschland Asyl zu erhalten. Nachdem Mardini noch im selben Jahr über die sogenannte "Balkanroute" nach Berlin gelangt war, kehrte sie kurz darauf, im Jahr 2016, an ihren ersten Ankunftsort in Europa zurück: Lesbos.


Ihre zweite Reise nach Griechenland trat sie mit einem klaren Ziel vor Augen an, nämlich anderen Geflüchteten zu helfen. Wie Sean Binder nutzte auch sie ihre Schwimmfähigkeiten, die sie durch jahrelanges Wettkampftraining erworben hatte, und schloss sich der ERCI an. Es wird berichtet, dass sie während ihrer Zeit auf Lesbos insgesamt 18 Menschen das Leben rettete, bevor sie sich wegen ihrer Verhaftung gezwungen sah, ihre ehrenamtliche Tätigkeit abrupt aufzugeben. Außerdem engagierte sie sich als Übersetzerin für die Bewohner:innen des Flüchtlingslagers Moria, das in der Vergangenheit zurecht als "Freiluftgefängnis" bezeichnet wurde.


Mittlerweile darf Mardini nicht mehr nach Griechenland einreisen, mit der Begründung, sie sei eine "Gefahr für die nationale Sicherheit". Dies steht im Kontrast zu Binder, der in den letzten Jahren für sein Gerichtsverfahren ohne Hindernisse in Griechenland ein- und ausreisen durfte. Wie Binder selbst anmerkt, ist dieser Unterschied in ihrer Behandlung auf rassistische Praktiken der Behörden zurückzuführen, was die Kriminalisierung nicht europäischer Bürger:innen durch griechische Regierungsstellen verdeutlicht.


Die übrigen 21 Angeklagten, allesamt auf Lesbos engagierte ehrenamtliche Helfer:innen, die wegen ihrer Teilnahme an Rettungseinsätzen strafrechtlich verfolgt werden, stehen weitestgehend weniger im Licht der Öffentlichkeit, darunter auch der etwas prominentere Nassos Karakitsos, ein ehemaliger Marine-Offizier der seine Fähigkeiten und Sprachkenntnisse für die Seenotrettung auf der Ägäis einsetzte. Allerdings erscheint die schiere Zahl der Personen, die wegen ihrer humanitären Hilfeleistung strafrechtlich verfolgt werden, auch Jahre später noch schockierend und empörend. Demgemäß haben nicht nur in Griechenland, sondern in ganz Europa zahlreiche Proteste stattgefunden, um sich mit den zu Unrecht kriminalisierten Freiwilligen zu solidarisieren. Darüber hinaus haben zahlreiche kleine und große humanitäre Organisationen und Menschenrechtsorganisationen ihre starke Empörung über das Vorgehen der griechischen Regierung und der griechischen Justiz zum Ausdruck gebracht, darunter Human Rights Watch, Amnesty International und die Vereinten Nationen. Selbst das Europäische Parlament veröffentlichte 2021 ein Statement, in dem es die damals anstehenden Gerichtsverfahren verurteilte. Das EU-Gremium versäumte es jedoch, ein Problem anzuerkennen, das von anderen Sprecher:innen zurecht miteinbezogen wurde, nämlich den äußerst gefährlichen Präzedenzfall, den dieser Fall für andere EU-Mitgliedstaaten im Umgang mit Hilfs- und Rettungsmaßnahmen darstellt.

Staatsanwaltschaft und Gerichtsprozess


Die Geschichte der Strafverfolgung und des Gerichtsverfahrens von Sean Binder, Sarah Mardini, Nassos Karakitsos und den 20 weiteren Angeklagten erscheint bizarr. Dieser Eindruck verstärkt sich umso mehr, wenn ein zweiter Blick auf die die genauen Vorwürfe geworfen wird: In den als "haltlos" bezeichneten Anschuldigungen behaupten die griechischen Behörden unter anderem, die ehemaligen Seenotretter:innen hätten Funkkanäle der griechischen Küstenwache abgehört und wären in einen Jeep mit falschen Militärkennzeichen gefahren. Während der ersten Anhörungen wurden diese Behauptungen aufgrund von Ungereimtheiten in Frage gestellt. Ein Beispiel, das die Absurdität der Anschuldigungen verdeutlicht, ist der Spionagevorwurf wegen Nutzung eines "verschlüsselten Nachrichtendienstes" durch die Helfer, bei dem es sich um nichts anderes als die äußerst beliebte mobile Nachrichten-App WhatsApp handelt.

Zwar müssen diese eher unglaubwürdigen Spionagevorwürfe noch vor Gericht angefochten werden, neben anderen schweren Vorwürfen von Straftaten wie Fälschung, Geldwäsche und Menschenhandel, die jeweils eine Freiheitsstrafe von mehr als 10 Jahren nach sich ziehen, doch gab es vor kurzem einen kleinen, aber symbolisch bedeutsamen Sieg: Am 13. Januar wurden die Anklagen wegen Verfahrensfehlern auf Seiten der Staatsanwaltschaft abgewiesen. Leider waren Mardini, Binder und andere gezwungen, mehr als vier Jahre darauf zu warten, ihren Namen in einem emotional und finanziell belastenden Strafverfahren reinzuwaschen, was auf die COVID-19-Pandemie, aber auch auf Verschiebungen der Gerichtstermine aus anderen Gründen und schließlich auf die Verweisung der Angelegenheit an eine höhere Justizbehörde zurückzuführen war. Es scheint jedoch, als gäbe es jetzt mehr Grund zur Hoffnung als zuvor.


Hoffnung ist dringend nötig, denn die Fälle dieser jungen humanitären Hilfs- und Rettungskräfte könnten als Abschreckung für andere dienen. In der Tat ist ein ähnliches Verhalten bei den italienischen Behörden zu beobachten, die seit 2017 Such- und Rettungskräfte kontinuierlich kriminalisiert haben. Auch die 23 Angeklagten auf Lesvos können sich noch nicht in absoluter Sicherheit wiegen. Zwar wurden die Anklagen wegen Spionage und Schleusertätigkeit fallen gelassen, doch möglicherweise müssen sie sich in Kürze wegen der angeblichen Bildung einer kriminellen Vereinigung erneut vor Gericht einfinden. Ein weiterer Scheinprozess droht. Für das zivilgesellschaftliche Engagement könnte der Fall Mardini/Binder/Karakitsos ein entscheidender Wendepunkt sein. Es bleibt zu hoffen, dass der Sieg von Binder, Mardini, Karakitsos und den 20 anderen Mitstreiter:innen der erste Schritt zu einer Entkriminalisierung von NGOs und ihren Freiwilligen an den griechischen Grenzen sein wird.

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