Diese Woche setzt unser Blogbeitrag das Interview mit Menschenrechtsanwalt Dimitris Choulis aus Samos fort. In der letzten Woche haben wir uns mit der Rolle der EU in Dimitris' Arbeit befasst, mit seiner professionellen Meinung als Rechtsexperte zum aktuellen Migrationspolitik-Trend der Kriminalisierung und mit seinen Ansichten als Samos-Bewohner über die Entwicklungen, die in den letzten sechs Jahren auf der Insel stattgefunden haben. Im zweiten Teil berichten wir nun über Dimitris' Erfahrungen mit dem griechischen Justizsystem und darüber, wie der Kampf um Gerechtigkeit in griechischen Gerichtssälen aussieht.
Alexia : Zum Thema Griechenland: Das mag eine schwierige Frage sein, aber was ist deine professionelle Meinung dazu, weshalb die griechischen Behörden und das griechische Justizsystem ihre Kriminalisierungsstrategien verstärkt haben? Glaubst du, dass die Entscheidungsträger*innen in Griechenland und Italien versuchen, den EU-Gesetzgeber*innen einen Gefallen damit zu tun, durch Strafverfolgungen die Ankünfte von Geflüchteten zu verhindern, da diese Länder geopolitisch als "EU-Außengrenzen" eingestuft werden? Das könnte zwar so interpretiert werden, als würde ich einen Mangel an Handlungsfähigkeit der nationalen Regierungen implizieren, was keineswegs die Absicht meiner Frage ist. Glaubst du dennoch, dass es eine allgemeine Tendenz geben könnte, "europäischer" werden zu wollen - so ironisch das auch klingen mag -, indem man sich mehr an den migrationsfeindlichen EU-Richtlinien orientiert? Ich muss hinzufügen, dass ich zu dieser Frage durch den Wahlslogan der Nea-Dimokratia-Partei, "Ein Schritt näher an Europa", inspiriert wurde, der derzeit Athener Werbeflächen dominiert.
Dimitris: Weißt du, ich wäre wirklich überrascht über die Organisationsfähigkeit unseres Landes, wenn ich erfahren würde, die Kriminalisierung von Migrant*innen und Geflüchteten sei Teil eines größeren politischen Masterplans. Ich persönlich glaube nicht, dass das der Fall ist. In meiner bisherigen Arbeit als Menschenrechtsanwalt habe ich nichts erlebt, das mir Grund zu dieser Annahme gegeben hätte. Was ich stattdessen beobachtet habe, ist eine allgemeine Grundhaltung, die Dinge einfach geschehen zu lassen. Nach dem Motto: "OK, ein Boot ist gerade angekommen. Wer saß am Steuerrad? Na gut, das ist der Schmuggler! Wir können jetzt eine Presseerklärung herausgeben, dass es uns als griechische Behörden gelingt, alle Schleuserringe erfolgreich zu zerschlagen."
Alexia: Du würdest also die allgemeine Haltung so beschreiben: "Niemand kann uns vorwerfen, wir würden unseren Job nicht tun"?
Dimitris: Ja. "Wir haben unsere Arbeit getan, das war's, ein weiterer Fall ist abgeschlossen." Und genau das führte zu diesen schockierenden Reportagen von Borderline Europe, in denen berichtet wurde, dass Gerichtsverfahren im Durchschnitt 28 Minuten dauerten und zu durchschnittlichen Gefängnisstrafen von 50 Jahren führten. Aber seit wir uns eingeschaltet haben, dauern Gerichtsverfahren drei oder vier Stunden und die Angeklagten kommen nach zweieinhalb oder drei Jahren aus dem Gefängnis. Und das liegt nicht daran, dass wir unglaubliche Helden sind, sondern daran, dass dieses bürokratische Chaos den Richter*innen erlaubt hat, Fälle einfach so anzugehen: "Fall Nummer XY. Schmuggel. Wie viele Leute waren auf dem Boot, zwanzig? Was ergibt zwanzig mal fünf? Hundert. Also, hundert Jahre Haft, Fall abgeschlossen." Und viele Anwälte haben zu diesem bürokratischen Schlamassel beigetragen, indem sie die Akten erst fünf Minuten vor der ersten Gerichtsverhandlung gelesen haben und damit faktisch dieselbe Haltung an den Tag legten. Seitdem wir uns aber damit befassen, haben wir diese etwas konkreteren Aspekte dieser Fälle ansprechen können und wir konnten dadurch zeigen, dass man kein Schmuggler sein kann, wenn man mit seinem Kleinkind an Bord reist. Sicher, wenn eine Richterin vielleicht zum ersten Mal sieht, dass ein vermeintlicher Schleuser mit seinem Baby auf dem Arm auf dem Boot gereist ist, könnte sie denken, dass sowas halt passiert. Aber wenn sie es ein zweites und dann ein drittes Mal sieht und sich unsere Verteidigung und unsere Fallanalyse anhört, wird auch sie anfangen zu verstehen, dass da etwas nicht stimmt. Und deshalb hat das Gericht auf Lesbos, das früher ein sehr hartes Gericht war, angefangen, gute Urteile zu fällen. Das Gleiche gilt für das Gericht hier auf Samos, wo alle drei Monate Richter*innen aus Syros für die Prozesse angereist kommen. Die Richter*innen auf Rhodos haben eine recht strenge Haltung beibehalten, aber auch dort haben wir in letzter Zeit einige Siege errungen, ebenso wie auf Kreta.
Alexia: Apropos Fälle, an denen du gearbeitet hast: Du hast kürzlich die Gruppe verteidigt, die in Griechenland als die "Neun von Pylos" bekannt ist. Dabei handelt es sich um Überlebende des Schiffsunglücks von 2023, das vor der Küste von Pylos auf dem Peloponnes stattfand und mindestens 700 Menschenleben forderte. Die "Neun von Pylos" wurden von den Behörden wegen Menschenhandels vor Gericht gestellt. Dieser Fall wurde in Kalamata verhandelt, einem Gericht, das du noch nicht erwähnt hast. Wie war diese Erfahrung?
Dimitris: Die "Neun von Pylos" wurden von meinen Kolleg*innen und mir im Rahmen des „Human Rights Legal Project“ verteidigt, das hier auf Samos tätig ist und normalerweise mit einem Anwalt aus Athen und einem aus Chios zusammenarbeitet. Bei der Vorbereitung dieses Falles beschlossen wir jedoch, mit noch mehr Kolleg*innen zusammenzuarbeiten und schlossen uns mit dem „Legal Centre Lesvos“ und zwei weiteren Anwält*innen aus Athen zusammen. Dementsprechend standen wir am Tag der ersten Anhörung zu acht im Gericht.. Nicht, weil acht von uns wegen der Arbeitsbelastung notwendig gewesen wären, ganz und gar nicht. Sondern weil wir dem Gericht und allen, die da waren, zeigen wollten: "Wir sind keine zwielichtigen Anwält*innen, die für irgendein dubioses Projekt arbeiten, das durch Menschenhandel Geld verdient." Wir wollten zeigen, dass es viele von uns gibt, die als Anwält*innen gegen schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen kämpfen und dass wir aus verschiedenen Orten angereist gekommen sind, um uns einzusetzen und allen zu sagen, dass dies ständig passiert und dass es ein größeres systemisches Problem darstellt, das "Kriminalisierung" genannt wird. Dass es eine politische Taktik ist, die auf Leute abzielt, die eindeutig keine Schmuggler sind. Und ich kann ehrlich sagen, dass es sehr gut gelaufen ist. Denk nur einmal darüber nach, dass uns anfangs unsere Kollegin aus Kalamata ständig entschärfte, wie streng die Richter*innen vor Ort seien, bis wir sogar überlegten, eine Verlegung des Prozesses zu beantragen, weil wir eine Zeit lang wirklich etwas Angst verspürten. Wir dachten, unsere Mandanten könnten tatsächlich im Gefängnis landen. Aber nach vielen Diskussionen haben wir unseren Standpunkt doch noch einmal überdacht. Wir haben beschlossen, dass sich nichts ändern wird, wenn wir in Angst leben und über diese Dinge schweigen. Doch wenn wir vor Gericht gehen und die Situation der Richterin, der Gemeinde und den Medien erklären und von einer großen Organisation wie Amnesty International unterstützt werden, wird sich etwas ändern, und zwar dauerhaft. Es wird einen positiven Effekt für die "Nächsten" haben.
Alexia: Das ist eine wirklich hoffnungsvolle Botschaft, aber ich kann mir vorstellen, dass es trotzdem viel Mut erforderte, an diesem Tag in den Gerichtssaal zu gehen - selbst in einer Gruppe von acht Personen. Wurde deine Entscheidung durch eine bestimmte Erfahrung beeinflusst?
Dimitris: Unsere Haltung zu diesem Fall spiegelt zwar eine allgemeine Einstellung wider, aber diese Beharrlichkeit ist etwas, das vor allem unsere jüngeren Teammitglieder erst lernen müssen. Sie lernen es aber schon sehr früh in ihrer Tätigkeit in unserem Projekt. Ich erinnere mich an die Zeit, als meine Kollegin Ioanna Begiazi frisch aus dem Referendariat zu uns kam. Damals hatten wir einen Fall von drei jungen Männern übernommen, die von den Behörden auf Lesbos wegen Menschenhandels vor Gericht gestellt worden waren. Unter ihnen befand sich Mohammad Hanad Abdi, der schließlich zu einer 142-jährigen Haftstrafe verurteilt wurde. Nach der Urteilsverkündung hat Ioanna praktisch eine ganze Woche lang mit niemandem gesprochen, so niedergeschlagen und enttäuscht fühlte sie sich. Einerseits verstand ich natürlich, weshalb sie so empfand. Aber gleich danach, noch während wir in die Berufung gingen, sagte ich zu ihr: "Mach dir keine Sorgen, sei nicht traurig. Aus genau dem Grund, dass 142 Jahre Haftstrafe so ein so extremes Urteil ist, genau deshalb, weil es so extrem klingt, wird es am Ende unserem Fall helfen!" Natürlich konnte ich nicht wissen, wie die Berufung ausgehen würde, aber ich glaubte wirklich daran und ich behielt auch Recht. Diese ungeheuer strengen Urteile, diese Bürokratie, diese nonchalante Haltung der Justiz - das sind alles sichtbare Phänomene. Und manchmal ist das genau der Grund, warum man sie überhaupt bekämpfen kann. Aber man muss kämpfen.
Alexia: Mohammad ist also nicht für 142 Jahre im Gefängnis gelandet?
Dimitris: Mohammad und seine Mitangeklagten haben tatsächlich einen Dokumentarfilm über ihren Fall drehen lassen. Er heißt "142 Jahre" und wurde vom EU-Abgeordneten Stelios Kouloglou gedreht. Das bestätigte dann auch meine eigene Vorhersage an Ioanna: Die 142-jahrelange Haftstrafe klang so unglaublich, dass sie einen großartigen Filmtitel abgab! Wie zu erwarten war, hat dieser Dokumentarfilm viel Aufmerksamkeit auf den Fall gelenkt, aber auch auf das größere Problem, um das es hierbei geht. Und tatsächlich reduzierte das Berufungsgericht diese ungeheuerliche Strafe auf acht Jahre und Mohammad wurde freigelassen, da auch die abgesessene Zeit und gute Führung anerkannt wurden. Ich kann also Folgendes sagen: Selbst unsere Verluste können zu Gewinnen werden, wenn wir hartnäckig bleiben. Dieser Fall, der wie eine kolossale Niederlage aussah, wurde plötzlich zu etwas, das von Politiker*innen unterstützt wurde, etwas, das in den internationalen Medien Beachtung fand. Um auf deine vorherige Frage zurückzukommen: Der Staat ist nicht so gut organisiert, dass er absichtlich so handeln würde, zumindest nicht das Rechtssystem. Ich sage das mit Zuversicht, weil wir sehen können, wenn Dinge aufgrund einer straffen Organisation, aufgrund gut geplanter Vertuschungen geschehen, zum Beispiel bei Spionageskandalen. Aber nach unserer Erfahrung ist das in diesem Bereich nicht der Fall. Natürlich sind die drakonischen Gesetze, auf denen die Urteile beruhen staatlich geschaffen, die Legislative liegt in den Händen der nationalen Regierung, die wiederum von Kyriakos Mitsotakis, von Nea Dimokratia, geführt wird und in die EU und ihre Richtlinien eingebunden ist. Die Art und Weise, wie die Gesetze auf konkrete Fälle angewandt werden, lässt sich jedoch bekämpfen.
Alexia: Okay, die Gesetze sind also da und natürlich liegt es in der Macht jeder Richterin, sie in der Weise durchzusetzen, die sie für angemessen hält. Und wir als Aktivist*innen - und vor allem du als Anwalt - können nicht davon ausgehen, dass jede einzelne Richterin da draußen leicht davon zu überzeugen ist, sich einer Art hochpolitisierten "Kampf für Menschenrechte" anzuschließen. Aber auch Richter*innen sind Menschen. Wie würdest du also auf menschlicher Ebene die Veränderungen beschreiben, die du im Justizsystem beobachtet hast? Wie hat sich die Sichtweise der Entscheidungsträger*innen in eine dreidimensionalere Perspektive verändert, seit du dich aktiv mit diesen Fällen befasst? Bist du beispielsweise in der Lage gewesen, das Mobilisierungsvermögen persönlicher Geschichten zu nutzen, um die komplizierten Situationen aufzuzeigen, in denen sich deine Mandanten auf dem Weg, ein besseres Leben in Europa zu finden, befanden?
Dimitris: Wie du sagst: Wir sollten nie vergessen, dass jede Autoritätsperson, der wir begegnen, auch ein Mensch ist. Jeder Fall, jedes Verfahren hat immer auch eine persönliche Komponente. Sicher, manche Richter*innen oder Staatsanwält*innen sind vielleicht politisch eher links orientiert und das kann spürbar werden, wenn man sich ihre Laufbahn ansieht, wenn man feststellt, dass sie immer allen Spielraum nutzen, den sie bekommen, um ein weniger strenges Urteil zu fällen. Aber abgesehen davon können wir auch die menschliche Perspektive ändern, indem wir sorgfältig auswählen, wie wir die Geschichte hinter jeder Anklage darstellen. Und leider ist die Geschichte immer ziemlich einfach: Wir gehen nicht gegen Schleuser- oder Menschenhandelsnetze vor, wenn wir diese EU- und staatlichen Gesetze durchsetzen. Wir bringen keine Kriminellen hinter Gitter, wir verurteilen nicht die Leute, die von diesem schädlichen System profitieren, die Leute, die in ihren Villen in Libyen, Ägypten und der Türkei leben, die nie einen Fuß auf ein Beiboot gesetzt haben.
Alexia: Könntest du uns eine konkrete Geschichte erzählen, die zeigt, wie jemand in einer solchen Position seine Meinung geändert hat oder anderweitig in der Lage war zu erkennen, wie Menschen in diese prekären Situationen gezwungen werden?
Dimitris: Ich kann dir tatsächlich über ein Ereignis erzählen, das vor relativ kurzer Zeit hier auf Samos stattfand. Es geschah während einer Gerichtsverhandlung gegen insgesamt vier Angeklagte, die als angebliche Schmuggler vor Gericht standen. Zwei von ihnen wurden zu einigermaßen geringen Strafen verurteilt und nach einer Berufung sogar freigelassen. Die dritte Person wurde aufgrund glaubwürdiger Zeugenaussagen für unschuldig befunden. Der vierte Angeklagte jedoch, ein älterer Mann aus einem Land, das offiziell als "sicher" gilt, erhielt eine lange Strafe. Ich nehme an, dass das Gericht seine Erklärung dafür, wie er von seinem Herkunftsland, der Türkei, dann auf dem Weg hierher gelandet ist, für nicht plausibel genug hielt. Du musst dabei bedenken, dass alle vier Fälle von derselben Richterin und derselben Staatsanwältin bearbeitet wurden. Während des gesamten Prozesses hatte ich den Eindruck, dass sie, wenn sie nicht in der Lage waren, unserem Fall zu "helfen", dies auch nicht taten. So einfach war das. Nun, als das vierte Urteil verkündet wurde, stand dieser sechzigjährige Mann auf und brach sofort auf dem Boden zusammen. Ich persönlich war nicht sonderlich überrascht, denn ich wusste bereits, dass er mit einigen gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hatte. Er bricht also zusammen, wir rufen einen Krankenwagen, und dann warten wir alle auf den Rettungsdienst, der ganze Gerichtssaal ist in Aufruhr. Kurz bevor er zusammenbrach, hatte ich die Ahnung, dass es dem Mann nicht gut ging und dass es noch schlimmer werden würde. Deshalb habe ich kurz bevor er in Ohnmacht fiel, die Richterin und die Staatsanwältin gefragt, ob sie den Raum für eine Weile verlassen möchten - man könnte sogar sagen, ich habe ihnen höflich dazu geraten. Aber wider besseres Wissen, wie sich herausstellte, entschieden sie sich zu bleiben und am Ende waren sie von dem ganzen Ereignis völlig aufgelöst. Sie schauten mit großen Augen auf alles, was passierte, während wir über eine halbe Stunde auf den Krankenwagen warteten und dann sahen sie zu, wie die Rettungshelfer*innen den Angeklagten wegtrugen. Sie standen unter Schock. Mindestens zwei Tage lang haben sie sich danach immer wieder bei mir gemeldet, um sich zu erkundigen, ob es ihm gut geht, ob er sich besser fühlt... Sogar wenige Minuten nachdem der Krankenwagen weg war, kamen sie auf mich zu und fragten, wie sie helfen könnten, was sie tun sollten. Ich konnte erkennen, dass sie sich schrecklich fühlten, obwohl sie nichts falsch gemacht hatten. Sicher, das Urteil der Richterin war streng, aber weil die Gesetze streng sind! Bei den anderen drei Angeklagten hatte sie ja alles getan, was in ihrer Macht stand, um gerecht zu bleiben.
Alexia: Dennoch hat es sie persönlich sehr berührt, diesen Mann in Not zu sehen. Glaubst du, dass es sie auch auf beruflicher Ebene langfristig beeinflussen könnte?
Dimitris: Ja, das glaube ich. Klar kann man nicht immer so handeln, wie man gerne handeln würde, wenn man in ihrer Lage ist. Aber ich glaube wirklich, dass es dieser Richterin sehr schwer fallen wird, in Zukunft eine längere Strafe gegen jemanden zu verhängen, der wohl selbst ein Migrant oder Geflüchteter ist. Wie gesagt, wir erleben nur selten, dass Schmuggler vor Gericht gebracht werden und selbst wenn das mal passiert, handelt es sich immer um Personen, die nur im kleinen Rahmen in das kriminelle Netzwerk involviert sind und nie eine Machtposition innehaben.
Alexia: Dimitris, du hast uns heute einige wirklich fesselnde Geschichten erzählt. Bevor wir schließen, möchte ich dir noch eine schwierige Frage stellen: Wenn es dich und deine Kolleg*innen nicht gäbe, was wäre deiner Meinung nach die größten Hindernisse für Geflüchtete, die kriminalisiert werden?
Dimitris: Ich glaube, dass ein Vakuum der Natur widerspricht. Die Dinge werden immer zusammenkommen und leere Räume werden sich über früher oder später füllen. In meinem Fall könnte man sagen, dass ich diese Rolle übernommen habe, weil ich ein Teil der örtlichen Bevölkerung hier auf Samos bin. Ich lebte bereits hier und arbeitete als Anwalt, als sich die Ereignisse zwischen 2015 und 2019 direkt vor meiner Haustür, in meiner Heimatstadt, abspielten. Natürlich gab es auch andere Anwälte auf Samos, die sich mit dem rechtlichen Aspekt von Asylverfahren befassten, aber die Themen Menschenrechtsverletzungen und Kriminalisierung blieben unterrepräsentiert. Dennoch habe ich selbst viele verschiedene Rollen verkörpert, auch in den letzten vier Jahren. Im Jahr 2020 zum Beispiel, als Rettungseinsätze verboten wurden, ging unser Team an die Küsten, die übliche Ankunftsorte sind um als Zeug*innen zu agieren, die Pushbacks im Weg stehen konnten. Das ist übrigens etwas, was jetzt „Ärzte ohne Grenzen“ macht, eine international legitimierte Organisation als unser kleines, lokales Projekt. Ich glaube also, dass, wenn ein Vakuum entsteht, es früher oder später gefüllt werden wird. Daran würde ich gerne glauben. Und noch etwas möchte ich betonen: Auch wenn ich derjenige bin, den ihr heute interviewt und die Frage, die du gerade gestellt hast, an mich gerichtet war und ich natürlich auf der Grundlage meiner persönlichen Erfahrungen gesprochen habe - es bin nicht nur ich, über dessen Arbeit ich gesprochen habe. Es gibt viele von uns, mehr als ich in diesem Gespräch mit dir hätte nennen können. Und viele, viele von uns arbeiten für kleine “Grass-Roots”-Organisationen, die oft Pionierarbeit leisten und den größeren, anerkannten Institutionen zeigen, was zu tun ist. Vor allem aber hoffe ich, dass ich heute Eines vermitteln konnte: Dass alle unsere Kämpfe eine Wirkung haben. Wenn es etwas Raum gibt und wenn es Menschen gibt, die bereitwillig mitmachen wollen, dann werden Andere folgen. Andere werden ihre Unterstützung zeigen und dann können wirklich wichtige Dinge bewegt werden. Wir müssen einfach weiterkämpfen.
Alexia: Vielen Dank für deine Zeit, deine Energie und deine ermutigende Botschaft, Dimitris!
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