Ein Symptom für ein größeres Problem" - Was der Sturz des Assad-Regimes für Menschen aus Syrien in Griechenland bedeutet
- Alexia Hack
- vor 2 Tagen
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Seit dem Sturz des Assad-Regimes im Dezember 2024 debattieren Entscheidungsträger*innen in europäische Staaten, in denen syrische Staatsbürger*innen Asyl gefunden hatten, über ihr Vorhaben. Dabei wurden Asylanträge in einigen EU-Mitgliedstaaten, wie Deutschland und Österreich, bis auf Weiteres sofort eingefroren. Während sich in Syrien, einem Land, das seit einem Jahrzehnt von bewaffneten Konflikten betroffen ist, ein historisch revolutionärer Moment abspielt , löst dies gleichzeitig in Europa eine neue Welle von Debatten über Migrationspolitik aus. Erste politische Reaktionen vieler EU-Mitgliedstaaten zielten auf den rechtlich geschützten Status zehntausender Syrer*innen ab: Menschen, die sich entweder mühsam ein neues Leben aufgebaut hatten oder noch immer verzweifelt darauf hoffen. Ihre Existenzgrundlage geriet so über Nacht ins Wanken, und ihre Zukunft bleibt nicht zuletzt Verhandlungsmasse.

Viele Expert*innen kritisieren diese Entscheidungen, betrachten sie als verfrüht und nennen die anhaltende politische und wirtschaftliche Instabilität in Syrien als entscheidende Faktoren, die eine erfolgreiche Rückführung verhindern. Sie fordern Zwischenlösungen und deutliche Informationen von Staatsträger*innen über die nötige Zeit, in der sich das Land nach einer mehr als fünfzigjährigen menschenrechtsverachtenden Regierung der Assad-Familie wieder aufbaut. Um die aktuellen Richtungen der europäischen Migrationspolitik und ihre Auswirkungen auf syrische Staatsbürger*innen zu verstehen, hat das Team von Project Elpida mit der auf Samos aktiven Rechtsberaterin Réka Rebeka Rósa gesprochen.
Regierungsumsturz in Syrien: Was nun?
Durch das Einfrieren der Asylanträge syrischer Staatsbürger*innen haben viele EU-Staaten eine neue Ebene der Unsicherheit für diejenigen geschaffen, die Geflüchteten-Status oder subsidiären Schutz genießen, einschließlich Personen mit anhängigen Asylanträgen. Gemäß den Genfer Konventionen ermöglicht das EU-Recht den Regierungen, ihren Status zu widerrufen, zu beenden oder die Verlängerung zu verweigern, wenn der Grund für den Schutz entfallen ist. Obwohl derzeit keine Pläne für eine Massenrückführung existieren, haben viele Länder den Sturz des Assad-Regimes dennoch als Grundlage für politische Anpassungen und reduzierte Schutzmaßnahmen interpretiert.
Die Debatten über die nächsten Schritte unterscheiden sich in rhetorischer Schärfe, von Diskussionen über die Einführung von „Go-and-See“-Besuchen die auch ukrainische Staatsbürger*innen durchführen können, bis hin zu Drohungen, Programme zur „geordneten Rückkehr und Abschiebung“ einzuführen. So spiegeln die Reaktionen der europäischen Staaten die zugrunde liegende Stimmung wider, die seit Beginn der Krise vor einem Jahrzehnt immer stärker zu spüren ist, eine Stimmung geprägt von der Rhetorik der Rückkehr. Sie finden letztlich im Kontext des EU-Türkei-Abkommen von 2016 und des Neuen Migrationspakts von 2024 statt, beides politische Entscheidungen, die sich auf die Umsiedlung in Drittländer und defensive Integrationstaktiken konzentrieren, um Migrationsströme außerhalb der europäischen Grenzen zu verwalten.
Angesichts der Übergangs-Natur der derzeitigen de-facto-Regierung Syriens versucht das Land immer noch, die Kontrolle über Gebiete zu konsolidieren, die mehr als ein Jahrzehnt lang verwüstet und geteilt waren. Seit dem Sturz von Assad wurden fast 1.500 Zivilist*innen bei Zusammenstößen zwischen syrischen Sicherheitskräften und einer verbleibenden Anzahl bewaffneter Pro-Assad-Loyalisten getötet, die sich innerhalb von Fraktionen der ethnischen Alawiten-Gemeinschaft gebildet hatten. Laut UNHCR wurden Bedenken hinsichtlich der Sicherheit, des Lebensunterhalts und der grundlegenden Dienstleistungen wie Wohnraum als Gründe für die niedrigen Rückführungsraten genannt, wobei etwa 90% der Menschen in Syrien in Armut leben. Neue Berichte besagen, dass seit dem Zusammenbruch des Regimes bereits über 40.000 Menschen vertrieben wurden. Voreilige politische Entscheidungen in der EU schaffen also mehr Unsicherheit für in Mitgliedstaaten lebende Syrer*innen und riskieren sogar, neue Wellen der Vertreibung auszulösen.
Außerdem ist es wissenschaftlich nicht bewiesen, dass es die Sozialleistungen sind, die Menschen in Deutschland halten. Stattdessen haben Forschungen gezeigt, dass syrische Geflüchtete, die vor einer Rückkehr-Entscheidung stehen , eher von den Bedingungen in Syrien als von politischen Entscheidungen in ihren Aufnahmeländern motiviert werden. Die neuen politischen Kürzungen oder Asylverschärfungen sind also in gewisser Hinsicht Symbolpolitik.
Menschenrechts‑Expert*innen warnen: Für Maßnahmen ist es noch zu früh
Diese drastischen Reaktionen staatlicher Akteur*innen haben zahlreiche Menschenrechtsorganisationen dazu veranlasst, für nuanciertere und nachhaltigere Lösungen zu plädieren. Der Nahost-Experte leitende Politikberater des Deutschen Bundestages erklärte, dass ein vorerstes Einfrieren der Asylanträge, , sowohl Syrer*innen als auch Aufnahmeländer destabilisiere. Momentan erhöhe sie die Unsicherheit der Syrer*innen, die auf eine Entscheidung warten, und schaffe für Antragsteller*innen eine belastende Hängepartie.
Diese Einschätzung deckt sich mit der Position von Organisationen wie dem Europäischen Rat für Geflüchtete und Exilierte (ECRE). In einer Analyse jüngster politischer Verschiebung, betont dieser die zentrale Rolle der EU bei der Unterstützung des Übergangs in Syrien sowie die Rolle Europas, gleichzeitig internationalen Schutz aufrechterhalten zu müssen. Dafür brauche es einen gemeinsamen EU-Rahmen für temporäre Syrien Reisen von Schutzberechtigten sowie Ersatzschutzformen für anerkannte Geflüchtete, etwa subsidiäre oder nationale Schutz-Statuse beziehungsweise Aufenthaltsgenehmigungen zum Zweck von Arbeit oder Studium. Um das Risiko weiterer Vertreibung und Unsicherheit zu mindern, ist eine kontinuierliche Beobachtung der Lage nötig; der Sturz Assads allein macht Asylansprüche nicht hinfällig.
Seit dem Zusammenbruch des Regimes haben viele syrische Geflüchtete in der EU betont, dass eine Rückkehr das Ende eines neuen Lebens bedeuten würde, für das sie alles riskiert haben. Wie die EU und ihre Mitgliedstaaten reagieren, ist entscheidend für einen Übergang zu einem grundlegend sicheren, dauerhaften und stabilen Syrien. Eine Rhetorik der Rückkehr birgt die Gefahr, das Leben der bereits in der EU angesiedelten Menschen zu destabilisieren und jene mit offenen Asylanträgen noch stärkerer Unsicherheit und Menschenrechtsverletzungen auszusetzen. Derzeit warten 9500 Syrer*innen in Griechenland, 7300 in Österreich, 500 im Vereinigten Königreich und allein in Deutschland 47.270 auf Entscheidungen.
Asylverfahren-STOP führt zu Auswegslosigkeit in gefängnisähnlichen Lagern
In unserem Gespräch mit Réka, einer Rechtsexpertin, die seit 2022 für I Have Rights (IHR) auf Samos tätig ist, sprachen wir über die Lage syrischer Staatsangehöriger*innen im Close Controlled Access Center (CCAC) auf Samos. Mitglieder von IHR versorgen neben ihrer Advocacy‑Arbeit die Camp‑Bewohner*innen mit juristischen Informationen und Beratung.
Réka konnte uns wertvolle Einblicke in die aktuellen Asylverfahren für Geflüchtete aus Syrien geben.
Unser Gespräch begann nicht mit der Thematik des Regierungsumsturzes, sondern mit dem viel diskutierten sogenannten „EU‑Türkei‑Deal“, der 2023 trotz heftiger Kritik von Aktivist*innen verlängert wurde. Rékaerläutert, dass die Vereinbarung, die die Türkei zum sicheren Drittstaat erklärte, das Asylverfahren vor allem für syrische, afghanische, pakistanische, bangladeschische und somalische Staatsangehörige erschwerte. Wer über die Türkei nach Griechenland einreist, müsse zwei Schritte durchlaufen: ein erstes Interview, in dem bewiesen werden soll, dass die Türkei kein sicherer Ort für eine Rückführung sei, und ein zweites zur Sicherheit des eigentlichen Herkunftslandes.
„In der Praxis“, sagt Réka, „wurde die Türkei nie als sicher betrachtet.“ Bei der Bearbeitung ihrer Fälle habe sie erlebt, dass es „sehr, sehr schwierig war, internationalen Schutz zu erhalten, und viele Menschen abgeschoben wurden“. Der Zugang zu Asyl sei „sehr begrenzt“ gewesen; die Bedingungen erfüllten eindeutig nicht die gesetzlichen Anforderungen an einen sicheren Drittstaat. Praktisch sei eine Rückführung in die Türkei ohnehin kaum möglich gewesen: „Es gab im Grunde keinen Weg zurück.“ Dieses rechtliche Vakuum brachte viele Menschen in äußerst vulnerable Situationen, „ohne jeglichen Rechtsstatus“, so Réka, „und in Griechenland kann das Haft bedeuten.” Auf dieser Grundlage feierten Menschenrechtsexpert*innen im Oktober 2024 ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs, das die Türkei offiziell als unsicheren Drittstaat einstufte.
Zwar begrüßten Réka und ihre Kolleg*innen das EuGH‑Urteil, doch eine ministerielle Entscheidung in Griechenland drohte dessen Wirkung auf nationaler Ebene auszuhebeln: „Die Entscheidung, die Anfang April verkündet wurde, betonte, dass die Türkei durchaus als sicher gelten könne“, erklärt Réka, „wir sind daher sehr verunsichert.“ Die Entscheidung trug weiter zur Verwirrung in einer ohnehin unklaren Situation bei: „Nach dem Sturz des Assad‑Regimes fanden zwar noch Interviews statt, aber der Asyldienst teilte uns mit, er werde dazu keine Entscheidungen treffen. Unsere Klient*innen gingen also zu ihren Terminen, wurden in einem einzigen Gespräch zu Syrien und zur Türkei befragt – und erhielten dann nie eine Entscheidung.“
Die ministerielle Entscheidung über den Türkei‑Status führte schließlich zu einem kompletten Interview‑Stopp. „Alle sind ziemlich ratlos“, sagt Réka. „Wir versuchen weiterhin, Informationen zu geben, aber die Leute sind verständlicherweise frustriert: Wir wissen nicht, wann es Termine geben wird, wir wissen nicht, wie die Entscheidungen ausfallen, und wir wissen nicht, wann das Verfahren wieder aufgenommen wird.“ In dieser Phase des Unklaren sei auch der Asyl‑Infopoint im CCAC seit über einem Jahr nur unregelmäßig geöffnet, weil es an Dolmetscher*innen und Kapazitäten fehle.
„Man darf dabei nie vergessen, dass die Menschen unter extrem schwierigen Bedingungen leben“, betont Réka. „Auf Samos haben die Leute nur eingeschränkten Zugang zu fließendem Wasser, das Essen ist qualitativ und quantitativ unzureichend, es mangelt an Hygiene, und die Menschen kämpfen mit Bettwanzen, Kakerlaken, Krätze und anderen Gesundheitsrisiken.“ Obwohl IHR fast ausschließlich juristisch arbeitet, bleibt die schlechte mentale Verfassung ihrer Klient*innen nicht verborgen. „Derzeit gibt es im CCAC überhaupt keine*n Psycholog*innen“, sagt sie. Bewohner*innen, die in dem, was Réka - und auch viele Menschenrechtsvertreter*innen – als „haft ähnliche Bedingungen“ bezeichnet, ausharren müssen, haben keinerlei Zugang zu psychischer Betreuung durch staatliche Träger.
Während Debatten über eine mögliche Rückkehr syrischer Geflüchteter toben, fehlen Menschlichkeit und Würde in Europas Lagern
Während Journalist*innen, Politiker*innen und Stimmen des öffentlichen Diskurses darüber streiten, ob Syrer*innen nach dem Sturz des Assad‑Regimes zurückkehren wollen, hat Réka den Eindruck, dass dieses Thema unter den Bewohner*innen des CCAC kaum vorkommt. Ebenso habe sie niemanden von „Go‑and‑See“-Besuchen sprechen hören; das leitende Gefühl sei weiterhin die Sorge um die allgemeine Sicherheit in Syrien.
Auf die Frage, ob klare Leitlinien von EU‑Behörden für griechische Beamt*innen und insbesondere für humanitäre Helfer*innen nützlich wären, zeigt sich Réka skeptisch. „Das könnte helfen, die Lage besser zu verstehen, aber wir sprechen von einer EU, die im Klima des neuen EU‑Migrationspakts agiert.“ Wichtiger sei, den größeren Kontext neu zu beleuchten und generell in Richtung „Würde und Menschlichkeit im gesamten Asylverfahren“ zu steuern. Das CCAC spiegele die unmenschlichen Zustände wider, vor denen Réka und viele andere seit Langem warnen. Dennoch sei sie enttäuscht, wie wenig Aufmerksamkeit etwa alarmierende Berichte über unbegleitete Minderjährige erhielten. „Viele Elemente des neuen Pakts sind dem Regelwerk entnommen, das wir hier auf Samos sehen, gerade beim Screening“, erklärt sie. „Und leider sehen wir ganz deutlich, wie diese Regelungen scheitern und Menschen noch weniger Rechte haben als zuvor.“
Zum Schluss unseres Interviews fragten wir Réka, was ihrer Ansicht nach in diesem Advocacy‑Blogbeitrag besonders hervorgehoben werden sollte. Ihre Antwort ist eindeutig: Weder die Lage auf Samos noch die Behandlung syrischer Staatsangehöriger dürften als isolierte Fälle betrachtet werden.Unsere Fragen dürfen sich nicht in Schlagzeilen über den Sturz des Assad-Regimes oder andere Einzelereignisse erschöpfen. Sie müssen den Blick auf das Ganze richten: auf die systematische Entrechtung von Migrant*innen und Geflüchteten in der EU. Was wir heute diskutieren, ist nicht die Ursache – es ist nur ein sichtbares Symptom eines viel tiefer liegenden, strukturellen Versagens.
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