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Rezension: Sara Mardini - Gegen den Strom

Nachdem im Jahr 2022 Netflix die Geschichte der Mardini-Schwestern Sara und Yusra auf ihrer Flucht erzählte, folgt nun eine Dokumentation, die sich mit der älteren Schwester Sara und ihrem Kampf für Gerechtigkeit befasst. Darin geht es um eine junge Frau zwischen den Welten, auf der Suche nach sich und ihrem Willen, gegen ein System, das sie einsperren möchte zu kämpfen.



Mit der Welle - Gegen den Strom


In Sara Mardini - Gegen den Strom begleitet die Regisseurin Charly Wai Feldman die Aktivistin Sara Mardini über einen Zeitraum von vier Jahren. Die Dreharbeiten beginnen mit Saras Entlassung auf Kaution aus dem Hochsicherheitsgefängnis Korydallos in Griechenland. Mardini war zuvor von den griechischen Behörden unter dem fadenscheinigen Vorwurf verschiedener schwerer Straftaten verhaftet worden, während sie 2018 auf der Insel Lesbos ehrenamtliche Rettungsarbeit leistete. Feldmans Film ist eine Erkundung der Folgen von Saras dreimonatiger Inhaftierung sowie der Auswirkungen des immer wieder verzögerten Gerichtsprozesses auf das Leben der jungen Frau.


Der Dokumentarfilm wird von Mardini selbst kommentiert. Dadurch erhalten die Zuschauer*innen einen zusätzlichen Einblick in ihre Gedanken und Gefühle, während sie sie in oft sehr persönlichen Situationen wie ihrem Schlafzimmer oder am Esstisch ihrer Familie beobachten. Wir sehen, wie Sara mit ihrer Freundin Claudia, ihrem Mitangeklagten Sean Binder und natürlich mit ihrer jüngeren Schwester Yusra Mardini Zeit verbringt. Wir sehen auch, wie Sara die immense Frustration über die Ungerechtigkeiten, mit denen sie konfrontiert ist, spürt, wie sie sich Zoom-Gesprächen mit ihrem Anwalt einschaltet und versucht, ihrer Angst zu entkommen, indem sie reist, tanzt und Musik hört. Auch blickt sie mehrmals in Bühnen-Makeup in Richtung der Kamera, wenn sie kurz vor einem Talkshow-Auftritt ist oder bei Veranstaltungen fotografiert wird. Sie wird gefilmt, während sie eine wütende Rede bei einer Demonstration vor dem deutschen Bundestag hält.


Wir bekommen so eine dreidimensionale Version von Sara zu sehen, jemanden, der jede*n Zuschauer*in auf mehreren Ebenen anspricht, nicht nur als humanitäre Aktivistin, als Geflüchtete, als junge Frau, die in Berlin lebt, oder als Zielscheibe einer politischen Agenda. In den letzten Minuten von Gegen den Strom ist eines sicher: Kaum eine*r unter den Zuschauer*innen wird nicht von Sara bewegt worden sein. Wie Feldman selbst treffend bemerkt: "Sara hat eine sehr starke Persönlichkeit, die einen wie ein Magnet mitreißt. Sie hat diese unglaubliche Stärke und gleichzeitig diese Verletzlichkeit."


Auf der Suche nach dem Sinn: Ein Leben zwischen Anklagebank und Berghain


Im Jahr 2022 hatte Netflix den Film The Swimmers veröffentlicht, der die Geschichte der beiden Mardini-Schwestern vom Beginn des bewaffneten Konflikts in Syrien im Jahr 2011 über das Bootsunglück, das sie auf ihrer Reise nach Europa überlebten, ihre Ankunft in Griechenland und ihre Zeit auf der sogenannten "Balkanroute" nach Deutschland schildert. Zum Schluss wird Yusras Teilnahme an den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro als Teil des neu gegründeten Refugee Olympic Team gezeigt. In unserer Kritik haben wir hervorgehoben, dass sich der Film nicht auf Saras politische und humanitäre Bemühungen konzentriert, geschweige denn zeigt, wie sie ab 2018 Opfer eines Systems wurde, das Hilfeleistung und Rettungsarbeit an den Außengrenzen der EU zunehmend kriminalisiert. Gegen den Strom füllt diese Lücke und scheint die Erzählung fast vollständig in Saras Hände zu legen, so dass Zuschauer*innen nie befürchten müssen, Teil einer Erzählung zu werden, die über sie, aber nicht mit ihr spricht.


Diesmal scheint Sara die Freiheit zu haben, sich so auszudrücken, wie sie sich mit PTBS, Depressionen und Angstzuständen fühlt, sie lässt einen Einblick in ihre Gedanken und in ihr Leben zu. Darüber hinaus setzt sie sich offen mit ihrer allgemeinen Rolle in der Welt des Aktivismus auseinander und stellt sogar die Frage, inwieweit ihr derzeitiger Lebensweg das Ergebnis ihrer eigenen Ziele, Wünsche und Bestrebungen war oder ob sie einfach nur "mit dem Strom geschwommen" ist. Wenn sie begeistert vom Tanzen, Feiern und ihrer Liebe für Techno-Musik spricht und den Wunsch äußert, eine "normale Studentin" zu sein, wird das Publikum von der Seite an ihr gefesselt, die in der Öffentlichkeit nicht so sehr in Erscheinung tritt. Andererseits wird aber auch deutlich, dass ihr Sinn für Selbstverwirklichung und Glück tatsächlich an den Ufern der Ägäis liegt, denn Sara spricht oft davon, wie sie sich nach einer Rückkehr aufs Meer und zur Rettungsarbeit sehnt.


Durch Feldmans Regie verstehen Zuschauer*innen, dass es sich um zwei Facetten ein und derselben Person handelt und dass Sara weniger in einem Konflikt gefangen ist als vielmehr eine junge Frau in ihren Zwanzigern ist, die ihre Leidenschaften erkundet und nach einem Ausweg aus ihren Ängsten sucht. Dabei bewegt sie sich in einer Dynamik zwischen ihr als Person des öffentlichen Lebens, ihr als politischer Aktivistin und ihr als junger Mensch in Berlin. Es gibt Momente im Film, in denen sie offen zugibt, dass sie die Erwartungen, die sie in den Gesichtern der Menschen sieht, vielleicht nicht erfüllen kann, dass sie vielleicht keine großen Taten vollbringt, dass es auch eine Option ist, einfach zu leben. Damit entspricht sie auch dem Zeitgeist, in dem junge Menschen zunehmend mit einem Erwartungsdruck konfrontiert werden, dem sie sich hilflos ausgeliefert sehen und den sie nicht erfüllen können. Mardini begegnet dem stoisch, ist sich dieser Herausforderung bewusst und spricht sie offen aus, ohne verzweifelt zu wirken. Dabei vergisst man, dass sie bereits etwas geleistet hat, was kaum jemand aus ihrer Generation von sich behaupten kann: die gefährliche Flucht nach Griechenland nicht nur überleben, sondern auch maßgeblich dazu beigetragen zu haben, dass viele andere nicht ertrunken sind und kämpft nach wie vor gegen die Missstände, die sie selbst am eigenen Leib erlebt.


Es geht um mehr als nur einen Fall


Am Ende des Films wird jedoch auch deutlich, dass Sara erschöpft ist und sich durch den Zustand der Entmündigung, in den das Gerichtsverfahren gegen sie gezwungen hat, gefangen fühlt. Sie erklärt den Zuschauer*innen, dass ihr Erfolg als humanitäre Aktivistin nicht an der Anzahl der Bühnen gemessen werden kann, auf denen sie auftritt und dies auch nicht sollte. Es ist offensichtlich, dass sie es leid ist, das Gefühl zu haben, dass sie nur reden, aber nicht handeln kann, oder dass in der Zwischenzeit auch niemand anderes wirklich handelt. Wie ihr Mitangeklagter Sean Binder immer wieder betont, haben die Vorwürfe und Prozesse gegen sie bereits erfolgreich potenzielle und existierende Helfer*innen verängstigt und abgeschreckt, was zu einem verringerten humanitären Einsatz auf den griechischen Inseln führt.


Sean ist es auch, der den Filmemacher*innen das aussagekräftigste Zitat liefert, während er und Sara von Feldman bei einem Fotoshooting für eine Kampagne von Amnesty International begleitet werden. Und obwohl diese Botschaft als selbstverständlich gelten und universal akzeptiert werden sollte, erklärt Sean treffend, dass es bestimmte politische Kräfte gibt, die die Bürger*innen der EU vom Gegenteil überzeugen wollen. Er sagt:


„Es ist egal ob du rechts oder links bist, niemand sollte ertrinken. Selbst wenn man am Ende kein Asyl gewährt, sollte das Risiko zu ertrinken, nie einkalkuliert werden, um Migration zu stoppen.“

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