Was die Spatzen längst von den Dächern pfeifen, wurde jetzt auch von der EU-Antibetrugsbehörde OLAF bestätigt: Frontex hat in den letzten Jahren systematisch versucht, Menschenrechtsverletzungen in der Ägäis zu vertuschen.
120 Seiten dick ist das Ergebnis einer Recherche des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (Engl. European Anti-Fraud Office) OLAF. Über einen Zeitraum von 16 Monaten wurden 20 Zeug*innen befragt, unzählige Email- und Chatverläufe ausgewertet und Dokumente und Videos sichergestellt. Der nun vorliegende Bericht bestätigt, was Menschenrechtsorganisationen und NGOs in Griechenland und ganz Europa schon lange sagen: Frontex hat sich in der Ägäis zur Komplizin bei den griechischen Pushback-Operationen gemacht.
Eigentlich sollte der Bericht geheim bleiben. Er wurde nun jedoch von verschiedenen Medien im Wortlaut veröffentlicht. Aus dem Bericht wird nicht nur klar, dass Frontex aktiv wegschaut, wenn Menschenrechtsverletzungen wie Pushbacks passieren. Er zeigt auch, dass die interne Grundrechtsbeauftragte wissentlich übergangen wurde, dass interne Berichte über Menschenrechtsverletzungen manipuliert wurden und dass Frontex nicht einmal davor halt machte, die Europäische Kommission und das Parlament in die Irre zu führen.
Frontex vertuschte aktiv Pushbacks durch die griechische Küstenwache
Pushbacks passieren in der Ägäis jeden Tag. Alleine dieses Jahr wurden laut Aegean Boat Report fast 800 Boote von der griechischen Küstenwache an der Überfahrt gehindert, unter den wissenden Augen von Frontex. Wie beispielsweise am 5. August 2020 als das Frontex-Flugzeug FSA Metis beobachtete, wie ein Boot mit etwa 30 Personen an Bord von griechischen Behörden zurück in türkische Gewässer geschleppt wurde. Ein klarer Verstoß gegen die Menschenrechte. Tatsächlich hat jemand bei Frontex diesen Vorfall auch als solchen erkannt und einen «Serious Incident Report» erstellt, diese Meldungen werden unter anderem dafür verwendet, Menschenrechtsverstöße zu dokumentieren.
Laut OLAF wurden aber nicht etwa Massnahmen ergriffen oder die Verantwortlichen belangt, sondern das Flugzeug wurde aus der Ägäis abgezogen und ins zentrale Mittelmeer versetzt, um dort «Vorgänge zu unterstützen». Bei einer Durchsuchung im Frontex-Hauptquartier in Warschau fand die Antikorruptionsbehörde ein paar Monate später ein Dokument, in dem die Verlegung der FSA Metis Thema ist. Auf der letzten Seite fanden sie die handschriftliche Notiz eines hohen Vertreters: «Wir haben die FSA abgezogen, um nicht Zeuge zu werden...»
In einem Interview mit OLAF sagt der/die Mitarbeiter*in dazu aus: «Die Einstellung der Luftüberwachung diente dem Zweck, dass Frontex nicht mehr Zeuge von Zwischenfällen und angeblichen Pushbacks durch Griechenland wird und sich somit nicht intern in der Agentur mit heiklen Fällen befassen musste.» Die Person gibt außerdem an: «Für mich persönlich war das eine gute Entscheidung, weil ich zwischen zwei unterschiedlichen und gegensätzlichen Positionen stand: [Unbekannte Person A] wollte mögliche Vorfälle vertuschen, [Unbekannte Person B] wollte damit den Richtlinien entsprechend umgehen».
Interne Untersuchungen wurden verhindert
Denn es gibt Richtlinien. Frontex ist nach EU- und internationalem Recht dazu verpflichtet, bei ihren Einsätzen die Wahrung der Menschenrechte zu garantieren. Wie wir aber sehen, unternimmt Frontex nicht nur keine Schritte, um Menschenrechtsverletzungen zu verhindern, sondern schaut aktiv weg. Zudem wurden dem Bericht zufolge immer wieder Maßnahmen ergriffen, um sicherzustellen, dass Menschenrechtsverletzungen, wie von der FSA Metis beobachtet, weder dokumentiert noch untersucht werden.
Dabei gibt es bei Frontex eine interne Abteilung, die für die Einhaltung der Grundrechte durch die Agentur verantwortlich ist. Und bei allfälligen Verletzungen dieser Untersuchungen durchführen und Gegenmaßnahmen vorschlagen soll.
Diese Abteilung und insbesondere ihre Leiterin, die Grundrechtsbeauftrage, sind jedoch intern unbeliebt und werden regelrecht sabotiert. So wurde die rechtskonforme Haltung der Beauftragten in internen Chatprotokollen, die OLAF vorliegen, als «intellektuelle Diktatur» bezeichnet und mit dem Terror der «Roten Khmer» verglichen. Weiter wurden Mitarbeiter*innen von Frontex dazu ermutigt, die Mitarbeiter*innen der Abteilung für Grundrechte nicht als Kolleg*innen, sondern als «Externe» zu betrachten, als «keine von uns».
Außerdem wollte die Leitung von Frontex den Zugang zu Informationen für die Abteilung für Grundrechte begrenzen, selbst wenn es sich um Menschenrechtsverletzungen handelte. Wortlaut einer Sitzung vom 3. September 2020: «Die Abteilung für Grundrechte hat das Recht, Zugang zu allen Informationen zu bekommen. Das heißt jedoch nicht, dass wir ihnen alle geben [...] Wenn sie fragen, dann sind wir freundlich. Das ist die Falle»
Das bewusste Vorenthalten von Informationen begann aber schon viel früher. Bereits seit 2018 wurde der Zugang der Abteilung für Grundrechte zum wichtigsten Grenzüberwachungs- und Informationsmanagement-Tool der Agentur stark eingeschränkt. Von diesem Zeitpunkt an konnten sie nur noch begrenzt Informationen einsehen und als Verschlusssache eingestufte Informationen waren für sie gar nicht mehr abrufbar.
Um dem ganzen die Krone aufzusetzen beschloss die Frontex-Führung kurze Zeit später die sogenannten Serious Incident Reports (SIR) als Verschlusssache einzustufen. Also diese Meldungen, die unter anderem Menschenrechtsverletzungen melden.
Unkooperativ mit EU Institutionen
Interne Kontrollmechanismen wurden sukzessive und strategisch ausgeschaltet, um unliebsamen Fragen aus dem Weg zu gehen. Dennoch blieben die Zustände an den europäischen Aussengrenzen, insbesondere in der Ägäis, von der Weltöffentlichkeit nicht unbemerkt.
Im Jahr 2020 häuften sich Meldungen in Medien und von den NGOs über Verwicklungen von Frontex in Pushbacks. Die EU-Kommission verlangte daraufhin Antworten und wollte wissen, welche Fortschritte Frontex zum Schutze der Menschenrechte erzielt hatte – Die Grenzschutzbehörde ist dazu verpflichtet.
Laut OLAF gab Frontex nur einen «teilweisen Überblick über die Dynamik der Ereignisse». Zudemattestierten sie «mangelhafte Zusammenarbeit und Bereitschaft» in Bezug auf Änderungsvorschläge der Kommission. Aber nicht nur vor der Kommission zeigte sich Frontex unehrlich und uneinsichtig – mehrfach wurde die Agentur vom Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres des Europäischen Parlaments (LIBE) vorgeladen um Erklärungen für die Berichte der Medien und NGOs zu liefern. Laut OLAF hat Frontex in mindestens 11 Fällen das Parlament angelogen oder in die Irre geführt.
Business as usual in der Ägäis
OLAF bezeichnet diese Lügen und die irreführenden Erklärungen gegenüber der Europäischen Kommission und dem Parlament als «fehlende Loyalität gegenüber der Europäischen Union».
Man wähnt sich in einer «Art Krieg» und da scheinen alle Mittel recht. Die Leidtragenden dieser Politik und des Verhaltens von Frontex sind die Menschen, die in der Hoffnung auf ein sicheres und menschenwürdiges Leben nach Europa kommen. Und trotz dieses Berichts und der belegten Vergehen der Grenzschutzagentur, ist keine Änderung der Praxis in der Ägäis in Sicht. Frontex widerspricht den Ergebnissen der Untersuchung und behauptet allen Ernstes: «Die Maßnahmen von Frontex in der Ägäis-Region wurden im Einklang mit dem geltenden Rechtsrahmen durchgeführt, einschließlich der sich aus den Grundrechten ergebenden Verantwortlichkeiten».
Blanker Hohn für die mehr als 20 000 Menschen, die dieses Jahr bereits illegal an der Überfahrt gehindert wurden und all derer, die unnötigerweise ihr Leben lassen mussten. Wir fordern die sofortige Auflösung von Frontex und sichere Routen für alle Geflüchteten!
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