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Hunderte Tote oder Vermisste - Das tödlichste Schiffsunglück im Mittelmeer seit Jahren

Am 14. Juni wurden die Leichen von mehr als 70 Menschen aus den Gewässern des Ionischen Meers an Land gezogen. Sie starben bei dem Versuch, das Mittelmeer zu überqueren und einen sicheren Erstankunkunftsort in einem EU-Mitgliedsstaat zu erreichen. Während mindestens 78 Leichen geborgen und 104 Opfer gerettet werden konnten, werden schätzungsweise weitere hunderte von Personen vermisst, da Berichten zufolge mehr als 700 Passagiere an Bord gewesen sein könnten.



Das Schiffsunglück, das als das Tödlichste der letzten Jahre im Mittelmeerraum gilt, ereignete sich etwa 80 Kilometer südwestlich einer Küstenstadt im Westen des Peloponnes und hat seitdem unter dem gleichnamigen #Pylos die Aufmerksamkeit der Medien auf sich gezogen. Unter diesem Hashtag begannen investigative Journalist*innen rasch, eine Abfolge von Ereignissen an dem fraglichen Abend zu entschlüsseln, die die schlimmsten Verdächtigungen gegen die für die EU-Außengrenzen zuständigen Küstenwachen zu bestätigen scheinen. Wie das Reporter*innen-Team von “Solomon” in Zusammenarbeit mit Journalist*innen des Guardian, der ARD und Ermittler*innen von “Forensis” herausfanden, wurde ein SOS-Signal von Passagieren an Bord des Fischkutters von der griechischen Küstenwache empfangen und ignoriert.


#Pylos: Die Wahrheit Hinter der Narrative der Küstenwache


Die ersten öffentlichen Erklärungen der griechischen Küstenwache zeichneten ein äußerst rätselhaftes Bild des Schiffbruchs in der Nähe von Pylos. Zunächst behaupteten offizielle Sprecher*innen, der mit Geflüchteten und Migrant*innen überladene Fischdampfer habe jegliche Hilfsangebote verweigert, um die Fahrt nach Italien fortzusetzen. Darauf reagierten nicht nur Expert*innen skeptisch, sondern auch aktive und ehemalige Beamt*innen der griechischen Küstenwache. Schließlich gab “Solomon” in einer Eilmeldung bekannt, dass seine Mitarbeiter*innen im Besitz von Beweismaterial der Kommunikation zwischen “Alarm Phone” und den griechischen Behörden sind. “Alarm Phone”, auch bekannt als “Watch The Med Alarm Phone Project”, wurde 2014 von Aktivist*innen aus verschiedenen europäischen Ländern, Marokko und Tunesien gegründet und bietet eine SOS-Hotline für Menschen, die bei der Überquerung des Mittelmeers in Not geraten sind. Laut dem von “Solomon” veröffentlichten Artikel beschreiben die ersten Aussagen der Hellenic Coast Guard den Austausch mit den Passagieren an Bord des überfüllten Schiffs wie folgt: "Der Fischtrawler wurde von dem Handelsschiff wiederholt gefragt, ob er zusätzliche Hilfe benötige", worauf man wiederum die Antwort erhielt, die Passagiere wollte „nichts weiter, als nach Italien weiterzufahren". Diese Erklärung für die tödlichen Ausmaße des Schiffbruchs wurden umgehend von Mitgliedern der europäischen Solidaritätsgemeinschaft in Frage gestellt. Aktivist*innen und Rechtsexpert*innen argumentieren, dass die Beamt*innen der Küstenwache sofort nach der Entdeckung des überladenen Fischdampfers eine Rettungsaktion hätten einleiten müssen, selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, dass die Menschen an Bord tatsächlich jegliche Hilfe verweigert hätten.


Im Gegensatz zu diesen Stellungnahmen steht eine E-Mail, welche nachweislich am 13. Juni um 17:53 Uhr EST von der Organisation “Alarm Phone” verschickt wurde. Nicht bloß die griechische Küstenwache wurde in dieser Mitteilung über die Koordinaten des in Seenot geratenen Schiffes und den Empfang eines Alarmsignals benachrichtigt, sondern auch mehrere andere Kontaktstellen. In der Empfängerliste befindet sich das griechische Polizeipräsidium, UNHCR Griechenland und Türkiye, das griechische Ministerium für Bürgerschutz und die örtliche Küstenwache der größten Hafenstadt in Peloponnes, Kalamata. Die Meldung wurde ignoriert.


Außerdem entdeckte laut einer Presseerklärung der offiziellen EU-Grenzschutzagentur ein Frontex-Flugzeug den Fischkutter bereits um 11:47 Uhr EST und informierte daraufhin sowohl die griechischen als auch die italienischen Behörden über die Sichtung eines stark überladenen Schiffes. Die Frontex-Mitarbeiter*innen setzten nach eigenen Angaben die Überwachung des Schiffes fort und boten der griechischen Küstenwache ihre Hilfe an, wurden jedoch gebeten, ihre Ressourcen auf einen anderen Such- und Rettungseinsatz vor der Südküste Kretas zu verlagern. Nach der Rückkehr aus Kreta stellte man schließlich am 14. Juni um 07:05 Uhr EST fest, dass “eine groß angelegte Such- und Rettungsaktion der griechischen Behörden im Gange war und keine Spur des Fischerbootes zu sehen war”. In derselben Pressemitteilung schreiben Frontex-Sprecher*innen: “Zum Zeitpunkt der Tragödie war kein Frontex-Flugzeug oder -Boot anwesend”.


Die Beweise dafür, dass die griechische Küstenwache für das Schiffsunglück vor der Küste von Pylos verantwortlich gemacht werden sollte, scheinen sich also zu verdichten. Auch wenn die Frage nach der Mitverantwortung von Frontex noch offen steht, wird immer deutlicher, dass die griechische Küstenwache die Hauptverantwortung für den Tod Hunderter von Menschen trägt. Dies ist jedoch nicht das erste Mal, dass die griechische Küstenwache angesichts des Diskurses um Flucht und Migration im Rampenlicht steht. Seit Jahren kursieren glaubwürdige Berichte über zahllose und regelmäßig durchgeführte Push-Backs durch griechische Behörden. Ihre schiere Häufigkeit, die zwischen 2020 und 2022 auf mehr als 1.000 geschätzt wird, hat Menschenrechtsaktivist*innen zu der Annahme veranlasst, dass Geflüchtete und Migrant*innen bei der Planung ihrer Reise über das Mittelmeer nunmehr wissentlich immense Risiken eingehen. Denn um zu vermeiden, dass sie von den Behörden zurückgedrängt werden, wählen sie vermehrt den von “Solomon” als “tödliche kalabrische Seeroute” bezeichneten Kurs, durch den sie griechische Gebiete gänzlich umgehen sollen.


Tote im Mittelmeer - ein Ergebnis der “Festung Europa”


Die Tragödie des Schiffsunglücks vom 13. und 14. Juni erscheint besonders grausam. Das ist jedoch nicht nur auf das Ausmaß der Todesopfer zurückzuführen, sondern auch auf die Erkenntnis, dass dies eine fatale Folge der Untätigkeit der griechischen Küstenwache war. Diese Untätigkeit gibt berechtigten Anlass zu der Anschuldigung, die Grenzschutzbehörde habe einen schweren Verstoß gegen die Vorschriften des Völkerrechts begangen, weil sie in einer Führungsposition nicht gehandelt hat. Der immense Mangel an ethischer und moralischer Verantwortung hat die Vertrauenswürdigkeit der Hellenic Coast Guard sicherlich dauerhaft erschüttert. Da sie und andere Behörden es regelmäßig versäumen, verantwortungsbewusst und im Einklang mit den Menschenrechtsbestimmungen zu handeln, ist das Mittelmeer zu einem Massenfriedhof geworden. Die vielen hundert Toten des gesunkenen Fishtrawlers vor Pylos machen einmal mehr deutlich, welchen Preis immer gefährlichere Fluchtrouten bergen, welche Risiken Menschen auf sich nehmen um ein Leben in Sicherheit zu leben.

Die EU guckt weg, der öffentliche Aufschrei ist ausgeblieben, das Sterben geht weiter. Das ist die Realität in Europa 2023.

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